7. Kapitel

Siebtes Kapitel - Helmut Rücker(Auszug aus „Stromberger Brände“, Regionalkrimi)

EIN WUNDERBARER SOMMER ist ins Münsterland gezogen, das angrenzende Sauerland profitiert davon, unverdienterweise, munkeln manche Wetterfrösche. Die Landwirte schuften auf den Feldern, und nebenbei begutachten sie den Reifungsprozess der Zwetschen; hier um Stromberg besitzt jeder Bauer so viele Pflaumenbäume, dass er Brennmeister Drüffels Maischebehälter für mindestens einen Brenngang füllen könnte. Etwa 15000 Stück von dieser Sorte soll es hier geben. Den Bauersfrauen juckt es in den Fingern, den ersten Pflaumenkuchen in das Backröhr zu schieben; es duftet in den Dielen mindestens ebenso gut wie im Café Terholsen auf der Daudenstraße.
Allenthalben ist man fröhlich gestimmt; selbst die Fußballverrückten (zu ihnen mag man ruhig halb Stromberg zählen) schalten gelegentlich den Fernseher aus, nachdem sie wochenlang ausgiebig auf die Mattscheibe gestarrt und die herausragenden Siege „ihrer“ Mannschaften bei Confed-Cup und U21-EM und auch bei der Frauen-EM fast als eigenes Verdienst genossen haben.
Dem anderen Bevölkerungsteil Strombergs gefällt es mehr in seinen Gärten – der ganze Ort duftet ja nach Blühendem und reifen Früchten. Nach reichhaltiger Ernte, an ausgewählten Sonntagen auch nach dem Wallfahrts-Weihrauch; immer aber duftet es nach Juli-Sommerfreude, nach August-Hochgestimmtheit, ja nach Frühherbst-Seelenfrieden im September. Die Senioren vor ihren Heimen finden draußen kaum noch freie Stühle und vergessen, an Sterben und Tod zu denken. Die zuhause wohnenden Senioren, denen Heime erspart bleiben, sitzen schon früh in ihren Gärten und haben bis zehn Uhr die GLOCKE längst ausgelesen, bis sie zur APOTHEKENUMSCHAU greifen und sich dort mit ihren Beschwerden stets gut aufgehoben fühlen. Aber im Sonnenschein liest sich dieses Krankheits-Bulletin viel entspannter, alles halb so schlimm mit meinen kaputten Knien, empfindet man.
Selbst Johannes Offing, der Stromberger Wirbelwind, sitzt am Koiteich und blättert in seinen geliebten Zeitschriften, liest sogar die dort eingestreuten Gedichte, die er sonst überschlägt – und bleibt plötzlich an ein paar Versen hängen, liest sie sogar zweimal:

Vollendeter Sommer,
am äußersten Rand der Sonne
beginnt schon die Finsternis.
Lorbeerverwilderungen,
dahinter aus Disteln und Steinen
ein Versteck,
das sich der Stimme
verweigert.

Den Autor dieser Verse, Peter Huchel, kennt er nicht, aber sie verstören ihn, wie kommt es nur, dass er an Kommissarin Bielers Vorhaben denken muss, im Stollen über dem Friedhof einem Geheimnis auf die Spur kommen zu wollen – am Rand der Sonne, in der beginnenden Finsternis, in einem verwilderten Versteck.
Johannes zwingt sich schließlich dazu, mehr an die ihm vertrauten Sommergedichte zu denken. An Lehrer Köhne, seinen Lieblingslehrer, der vermittelte sie den erstaunten Siebenklässlern in der Realschule Oelde, und auf einmal wurde auch der Buchstabensommer spannend. Goethes „Sommer“, Rilkes „Sommerabend“ und mehr, aber alle übertraf Hebbels „Sommerbild“, ein unglaubliches Gedicht („Ich sah des Sommers letzte Rose stehn“). Johannes kann es heute noch auswendig; er murmelt es vor sich hin und denkt an sein Ende.

© Helmut Rücker

Helmut Ruecker