Bomben auf Hagen
von Brigitta Willer
15. März 1945 – vor 75 Jahren
Es war mal wieder so weit:
Voralarm !
Die Sirenen schrillten ihren durchdringenden Heulton durch die Nacht. Angst und Schrecken machten sich breit. Aber dann verlief alles ganz automatisch – oft geübt: Papa sprang aus dem Bett und weckte als erstes seine kleine Tochter. Ärgerlich vor sich hinknurrend wollte die aber einfach nur in Ruhe gelassen werden. Mama war – wie immer – die schnellste. Längst hatte sie alles bereit gelegt, was mit in den Luftschutzkeller sollte: der Koffer mit wichtigen Papieren, Fotoalben, Silberbestecke und alte Erinnerungsstücke; Marias Köfferchen mit ihren Lieblingsspielsachen sowie ein wenig Tee und ein Stück Brot.
V o l l a l a r m !
Das hysterische Auf und Ab des Sirenentons wurde lauter und hektischer. „Rette sich, wer kann !“, hieß der Befehl.
Jetzt war höchste Eile geboten. Die feindlichen Flieger klangen bedrohlich nah. Erste Bombeneinschläge erschütterten die Stadt.
Rums!!! – Klirr!!! – Die Fensterscheiben! – Vom Luftdruck zerstört!
„So ein Mist“ – regte sich Papa auf. Dabei wusste doch jeder, dass bei Alarm als erstes die Fenster zu öffnen waren. Dann konnte ihnen der Luftdruck nicht so viel anhaben. Und genau das hatte er mal wieder vergessen.
„Wo soll ich nur – um Gottes Willen – wieder neue Fensterscheiben herkriegen?“
Später! Später! Dringlicheres war zu tun.
Immer noch V o l l a l a r m !
Dieses Mal schien der aufdringliche Heulton überhaupt nicht enden zu wollen. Gefahr! signalisierte er immer wieder: Höchste Gefahr! Jetzt schrie auch Maria vor Angst.
„Papa, Papa!“
Der packte seine Tochter unter den Arm, raffte ein paar Kleidungsstücke zusammen und rannte los. Zum Anziehen reichte die Zeit nicht mehr.
Glücklicherweise war der Weg in den Schutzraum nicht weit – die Wohnung lag im Parterre – nur eine Treppe brauchten sie hinunter zu laufen. Unten saß Mama bereits auf ihrem angestammten Platz.
Weil sie ein Baby erwartete, hatte Papa ihr schon vor Tagen einen bequemen Korbstuhl in den Keller gestellt. Die anderen Hausbewohner akzeptierten dieses Privileg. Sie selbst mussten mit groben Bretterbänken vorlieb nehmen.
Natürlich waren Papa und Maria mal wieder die Schlusslichter im Schutzraum.
„Müsst ihr eigentlich immer auf die letzte Minute kommen?“ meckerte Luftschutzwart Kirchhoff und fuhr grummelnd fort: „Dann können wir ja jetzt endlich dicht machen!“
Dicht gemacht wurde der Keller durch eine dicke Spezialtür. Sie war aus Eisen und hatte eine besondere Verriegelung. Im Ernstfall – bei einem Volltreffer zum Beispiel – sollte sie eine Weile Hitze und Staub draußen halten, damit die Menschen sich noch durch einen Notausgang retten konnten.
Inzwischen hatte es sich Maria auf ihrem Stammplatz gemütlich gemacht. Unter Mamas Korbstuhl fühlte sie sich geborgen. Nur wenn die Bomben ganz nah einschlugen, kriegte sie es mit der Angst. Dann musste Papa sich neben sie hocken und ihre Hand halten. Und beide hofften sehr, dass ihr Haus noch einmal verschont bliebe.
In dieser Nacht schienen die Tommies besonders geladen zu sein. Einen Bombenteppich nach dem anderen warfen sie auf die Stadt. Zwar versuchten die Hagener mit der Flak die feindlichen Flieger abzuschießen. Doch die flogen so schnell und so geschickt, dass das nur ganz selten glückte. Nur der Flak-Donner klang gefährlich herüber.
„Feuer – – – F e u e r – – – F e u e r ! ! ! “
Der Schrei des Luftschutzwartes übertönte den Bombenlärm. Kein Zweifel – jetzt hatte es auch ihr Haus erwischt. Der dicke Rums eben hatte ihrem Haus gegolten.
Marias Kopf donnerte vor Schreck unter Mamas Korbstuhl. Auch die Erwachsenen fuhren in die Höhe. Und plötzlich saßen alle auch noch im Dunkeln – die elektrischen Leitungen waren hin. Panik machte sich breit.
Oma Glasmeier konnte ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Sie war alt und gebrechlich und immer ganz schnell verzweifelt. Aber auch Maria hätte vor Angst am liebsten laut losgeheult. Doch da hörte sie schon Papas beruhigende Stimme:
„Ruhe, Leute, bleibt ruhig! Ich gehe jetzt los und gucke nach, ob wir noch über die Treppe raus kommen. Im schlimmsten Fall können wir immer noch die Notverbindung zum Nachbarhaus aufstemmen. Ihr seht: Kein Grund zur Panik!“
Und weg war Papa.
Wie gerne hätte sich Maria an seine Fersen geheftet. Sie wollte raus aus dem finsteren Kellerloch und sehen, was oben los war. Aber Mamas Hand hielt unerbittlich.
Nicht lange, und jemand hatte das kleine Karbidlämpchen angezündet. Es spendete zwar nur spärliches Licht – Menschen und Gegenstände waren aber wenigstens in Umrissen erkennbar. Die ersten Kellerbewohner tauchten bereits alte Handtücher und sonstige Stofflappen in den Wassereimer. Man wollte vorbereitet sein, wenn man durch Hitze und Staub fliehen musste. Ein nasses Tuch vor Mund und Nase war wenigstens ein kleiner Schutz für kurze Zeit.
„Die obersten zwei Stockwerke brennen lichterloh, sind auch zum Teil schon eingestürzt. Da ist nichts mehr zu retten.“
Marias Vater brachte die Katastrophenmeldung von draußen.
„Ogottogott!“ Frau Pfeifer war verzweifelt – sie wohnte mit Renate, Oma und Opa direkt unterm Dach. „Unsere schöne Wohnung – wo sollen wir jetzt bloß hin?“
Aber nun roch’s auch hier unten irgendwie verbrannt! Maria schnüffelte. War das Feuer etwa schon im Keller? Wie erleichtert war sie, als sie merkte: Es war Papa, der so roch – wie aus dem Rauchfang gestiegen. Und schwarz war er – voller Ruß. Die Hosen hingen in Fetzen herunter. Der Luftschutzwart sah nicht anders aus. Das sah nach schwierigem Ausstieg aus.
„Los, raus hier, sofort raus! Das Haus kann jeden Moment einstürzen! Und hört auf zu drängeln und zu schubsen. – Wir wollen schließlich alle heile raus!“
So was war immer und immer wieder geübt worden bei den vielen Luftschutzübungen. Und deshalb wussten Luftschutzwarte auch, was zu tun war.
„Alle Mann in den Hof! Und passt auf herab fallende Trümmer auf!“
Das war leichter gesagt als getan. Endlich draußen, flogen ihnen die brennenden Teile nur so um die Ohren. Eilig suchte sich jeder einen Platz zum vorläufigen Bleiben – möglichst weit weg von einstürzenden Hauswänden – und schaute entsetzt in das Inferno.
So stellte sich Maria die Hölle vor. Alle Häuser im Karree brannten lichterloh. Glühende Balken flogen durch die Luft. Ein Kamin krachte ein paar Zentimeter neben dem alten Kirchhoff in die Erde. Da hätte nicht viel gefehlt, und … Gar nicht auszudenken!
Mama wurde es ganz schwindelig. Sie stützte sich auf ihre kleine Tochter. Als Papa ihr endlich außerhalb der Gefahrenzone einen Platz auf dem kleinen Mäuerchen besorgt hatte und sie sich langsam erholte, wurde die Tochter angewiesen:
„Du rührst dich hier nicht vom Fleck! Ich klettere mal in unsere Wohnung und versuche, ein paar Sachen raus zu holen.“
Es war natürlich von Vorteil, parterre zu wohnen. Diese Wohnung würde zuletzt einstürzen. Nur hier war überhaupt noch was zu retten. Nicht lange, und Teile der Wohnungseinrichtung flogen aus dem Fenster, über den Balkon – Federbetten, Decken, Matratzen …
Ein paar Nachbarn, bei denen nichts mehr zu retten war, halfen Papa, hinauszutragen oder hinauszuwerfen, was nur möglich war. Selbst den großen schweren Küchenherd wuchteten sie über die Balkonbrüstung.
Maria blickte verzweifelt um sich. Wohin sie sah – nur Chaos und Panik. Der Himmel schien glutrot. Feuerwände wälzten sich von Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk, eine fürchterliche Hitze breitete sich aus. Und immer noch donnerten Flugzeuge über die Stadt, und immer noch krachten irgendwo Bomben nieder – Häuser stürzten ein, Kinder schrieen, Menschen weinten vor sich hin – Schrecken ohne Ende.
Sie bekam gerade noch mit, wie sich dicke Decken um sie hüllten, und dann schlief sie auch schon fest an Mutters Schulter.
Am nächsten Morgen traute Maria ihren Augen nicht. Lag sie tatsächlich in einem richtigen Bett? Über ihr eine weiße Zimmerdecke und nicht der freie rot gefärbte rauchige Himmel. Hatte sie die schrecklichen Dinge nur geträumt?
Das Lösungswort hieß Zwangseinquartierung. Marias Familie war noch in der Nacht mit weiteren drei Familien in ein unzerstörtes Haus in der Königstraße eingewiesen worden. Die Hausbesitzer mussten zwei Zimmer räumen, um für die Ausgebombten Platz zu schaffen. So hatte man wenigstens für die allernächste Zeit ein Dach über dem Kopf. Und alle waren froh und dankbar, zunächst mal das nächtliche Inferno heil und gesund überstanden zu haben.
Später würde man weitersehen.
(aus: Glück gehabt / Ardenko-Verlag)