Welttag des Buches
Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn es mit der Lesung in der Hohenlimburger Stadtteilbücherei ausgerechnet am Welttag des Buches (gestern am 23.04.2021) geklappt hätte. Alle Vorbereitungen einschließlich Plakaten, Flyern und sonstiger Öffentlichkeitsarbeit waren bereits für den Welttag des Buches im vergangenen Jahr getroffen, als es – Corona bedingt – abgesagt bzw. auf 2021 verschoben werden musste. Leider sieht’s in diesem Jahr nicht besser aus. Nun haben die Stadtbücherei und der Autorenkreis verabredet, im Herbst über neue Möglichkeiten von Lesungen nachzudenken.
Als ein – zugegebenermaßen – eher schwaches Äquivalent zur persönlichen
Lesung möchten die drei Autor*innen Wilfried Diener, Annette Gonserowski und
Brigitta Willer an dieser Stelle einen kleinen Ausschnitt aus dem Repertoire
vorstellen, das für die öffentliche Lesung vorgesehen war – für den Tag des
Buches.
Brigitta Willer
Die Liebe
Dieses Buch,
das auf mich wartete
in der hintersten Ecke
meines Bücherschranks,
das mich heute anzog
wie ein Magnet,
ich aufschlug
und zu lesen begann,
es erzählt vom Vergessen,
bringt in den Fokus,
was ich verbannte,
es macht mich hellwach,
jetzt, zu nachtschlafener Zeit.
Es erzählt vom Vermissen,
liebevoll,
schonungslos
und tröstend.
© Annette Gonserowski
Frühling
Habe das Gestern
vergraben,
mit seinem trocknen
Wurzelballen,
tief unter der Erde.
Nun steh ich,
fasssungslos,
vor aufgewühltem Lehm,
aus dem ein Zweiglein ragt
mit grünen Stundenblättern.
@ Annette Gonserowski
Seelenverwandte
Meeresrauschen – Waldesrauschen!
Diesen andächtig zu lauschen –
hier am weiten Nordseestrand,
dort zu Haus im Sauerland –,
ist für Körper, Seele, Geist
die Entspannung. – Und du weißt:
Diese Zeit am Meer, im Wald
gibt dir für den Alltag Halt.
Wo Natur an jenen Stellen
unermüdlich wirkt und schafft,
schöpft der Mensch aus ihren Quellen
immer neue Lebenskraft.
Naht jedoch des Sturmes Wüten,
schlägt das Meer und knickt den Wald,
muss der Mensch sich davor hüten,
denn vor der Naturgewalt
ist der Mensch ohnmächtig klein. –
Besser ist’s, wenn Wald und Wellen
an schönen Tagen, klaren, hellen,
wogen sanft im Sonnenschein.
© Wilfried Diener
Am Wegesrand
Am Wegesrand, wo die Wildblumen blühen,
vergisst du die Sorgen, vergisst du die Mühen,
die dich in der Hektik der Werktage plagen.
Am Wegesrand siehst du an sonnigen Tagen
des Sommers die Fülle des blühenden Lebens.
Und dabei spürst du: Es ist nicht vergebens,
die großen, globalen Sichten, die kalten,
mal zu vergessen und innezuhalten
am Wegesrand, um dort Wärme zu tanken
für Körper und Seele, die oft daran kranken,
weil Schönes am Wegesrand wird übersehen
im achtlosen schnellen Vorübergehen.
Noch gehst du voran auf der Wege Mitte
mit Blick nach vorn und mit festem Schritte.
Doch die Jahre, sie gehen mit dir ins Land,
und bald stehst du selbst am Wegesrand
und schaust, fern in Vergangenheit,
auf deine eigene Blütezeit.
© Wilfried Diener
Aufbruch
„Sie weiß doch ganz genau, dass ich diesen Fraß nicht mag – Ewig dieses Scheiß-Gesundheitsbrot.“
Herr Karl war wütend. Jeden Morgen aufs Neue. Es brodelte heftig in ihm. Aber noch hielt er seinen Zorn unter Verschluss. Er wollte keine Umstände machen. Nicht lästig werden. Das Damoklesschwert Seniorenheim fühlte er beständig über sich schweben. „Seniorenheim! – Wenn ich das schon höre!“ Erst kürzlich hatten er und August gemeinsam gegiftet: „Als wenn das Wort Alter per se schon mal verwerflich wäre. Altersheim – das trifft es. Und Alter ist eine Leistung! Sollen die anderen es erstmal schaffen – das Alter!“
Und sein wackeliges Oberteil mahlte weiter die biologischen Körner zu Brei.
Herr Karl wohnte seit Anfang des Monats bei der Familie seiner Tochter, nur ein paar Straßen entfernt von seiner alten Wohnung im oberen Wehringhausen. Nach dem letzten Herzanfall hatte sie rigoros darauf bestanden, den Vater ins eigene Haus zu holen. Die ständige Angst und das Hin und Her zwischen zwei Wohnungen: Sie wollte es nicht mehr hinnehmen. Und schweren Herzens hatte der Alte zugestimmt, als möblierter Herr bei seinen Kindern ins Obergeschoss zu ziehen. „Aber nur probeweise“, behielt er sich vor. Dieses Hintertürchen wollte er sich unbedingt offenhalten.
Die ersten zwei Wochen hatte er irgendwie hinter sich gebracht, immer in der Hoffnung, dass er sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen würde. Er wollte ja. Die Familie gab sich auch wirklich alle Mühe. Aber genau das war das Problem. Die Familie gab sich Mühe – er gab sich Mühe – es machte Mühe – er machte Mühe. Ein mühevolles Unterfangen.
Schon morgens fingen die Schwierigkeiten an: Er war Frühaufsteher, sein ganzes Berufsleben lang war er um halb sechs aufgestanden, und das konnte er im Alter auch nicht mehr ändern – Also stand er leise auf, um nur ja keinen zu stören. Auf dem Klo zog er extra nicht ab. Die Schallisolierung im Haus war miserabel. Vor halb acht traute er sich auf keinen Fall, die Wasserspülung zu betätigen. Und dann knurrte ihm auch schon der Magen, und er hatte Kaffeedurst. Frühstück um halb acht war einfach nicht sein Ding. Aber was sollte er machen. Er konnte schließlich nicht alles umkrempeln.
Ein Lichtblick in seiner neuen Umgebung war sein elfjähriger Enkel. Svens Umgang mit ihm war weniger bemüht. Ihm machte es Freude, mit dem Großvater eine Partie Schach zu spielen oder ihm sein Smartphone zu erklären. Und wenn ihm etwas nicht passte, oder der Alte mal wieder zu begriffsstutzig war, konnte Herr Karl das „Ach Opa, jetzt reiß dich doch mal zusammen, ich hab’s dir jetzt doch schon x-mal erklärt!“ problemlos schlucken. Der Junge hatte ja Recht.
„Wenn es doch nur mit dem Rest der Familie auch so einfach wäre“, seufzte der alte Mann oft vor sich hin.
Sein Freund August stöhnte ebenfalls: „Wenn mich meine Kinder mit ihrem ewigen Gesülze nicht bald in Ruhe lassen, weiß ich nicht, was ich tue – ‚Vater, du solltest dich ausruhen, nicht so anstrengen! Der Schnaps ruiniert dir den Magen. Eine Zigarre am Tag sollte reichen – denk an deine Bronchien.‘“ August war wirklich sauer. Und er wurde ungerecht.
Nur gut, dass sich die zwei Alten hatten. Sie funkten auf der gleichen Welle und verstanden einander. Ihre gemeinsamen Runden durch den nahen Stadtwald waren die täglichen Lichtblicke. Hin und wieder gesellte sich Lisbeth dazu, wenn ihre Arthritis es zuließ.
Lisbeth war eine Uralt-Bekannte aus Karls ehemaligem Nachbarhaus. Sie war gut zehn Jahre jünger als Karl. Ihr Temperament war gefürchtet. Und sie konnte sich durchsetzen. Sie hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, als ihr Sohn sie in seinem Haus aufnehmen wollte. „Nee, ich bleibe mein eigener Herr.“ Sie meinte natürlich Frau, aber in ihrer Generation hatte man noch eine andere Sprache.
„Das Gedöns mit der Verwandtschaft“ – und dabei schielte sie über ihre Brille in Karls Richtung – „nicht mit mir. Ich verblöde ja bei all der Tüddelei.“ Betüddeln lassen wollte sie sich auf gar keinen Fall. Selbst wenn das Reißen in den Gliedern nahezu unerträglich wurde, biss sie die Zähne zusammen und wälzte sich allmorgendlich wieder aus dem Bett.
„Obwohl“, so dachte sie hin und wieder, und in der letzten Zeit immer häufiger, „manchmal wäre es ja nicht schlecht, wenn mir jemand auf die Beine hülfe. Aber deswegen auf Selbstständigkeit verzichten? Nee, nee, jetzt jedenfalls noch nicht.“
„Oder ob ich mich kleiner setze?“ Aber diese wunderbare Wohnung aufgeben, von den Nachbarn wegziehen, die vertraute Gegend verlassen? Sie wohnte immer noch in der großzügigen Altbauwohnung, in die sie vor über 40 Jahren mit ihrer fünfköpfigen Familie gezogen war. Herrlich große Zimmer mit riesigen hohen Fenstern. Das alles in Ordnung zu halten, kostete schon eine gute Portion Energie. Eine Putzhilfe gab ihre Rente nicht her und Sohn und Schwiegertochter wollte sie auch nicht in ihrem Kram herumschnüffeln lassen. Privatleben war ihr wichtig. „Und dann muss ich mich womöglich noch bedanken“ – nee das gefiel ihr ganz und gar nicht. Ohne Gegenleistung hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nichts angenommen.
Statt weiter in ihren Sorgen zu wühlen, machte sie sich einfach auf den Weg in den Wald. Bewegung in frischer Luft würde ihr den Kopf frei machen. Und Karls und Augusts Probleme würden von ihren eigenen ablenken.
Überhaupt: Karl und August – so ganz diffus dämmerte in ihr ein Gedanke herauf, ein wunderbarer Gedanke, wurde konkreter und allmählich fassbar. Das Wort WG setzte sich in ihrem Hirn fest. Wie hatte ihr Sohn immer geschwärmt? „Da haste immer einen zum Reden. Und wenn de nich mehr wills, machse einfach deine Tür hinter dir zu. Gemeinschaft und Freiheit. Dat isses!“
Diesen Gedanken konnte die temperamentvolle Lisbeth keine Minute für sich behalten. Sie wollte ihn diskutieren mit ihren Freunden – jetzt, sofort.
Karl, bei dem es immer ein wenig länger dauerte, bis ein neuer Gedanke in seinem Kopf Platz gefunden hatte, sperrte nur kurz den Mund auf – und schloss ihn gleich wieder. Der Gedanke war wirklich zu ungeheuerlich. Wie stellte sich Lisbeth das vor?
August hingegen, nachdem er wirklich begriffen hatte, was Lisbeth da vorschlug, klopfte sich vor Begeisterung auf die Schenkel. „Dat isses“ – erwärmte er sich sofort für die Idee.
Typisch August, dachte Karl. Dem kommen die Bedenken immer erst abends im Bett – und dann kann er nicht schlafen.
Andererseits: Viel schlechter kann’s ja eigentlich bei ihm nicht werden.
Aber bei mir? Die Diskussionen mit seiner Tochter konnte er sich schon jetzt lebhaft vorstellen. Und Sven – den würde er vermissen. Na ja, so weit weg lag Lisbeths Wohnung ja auch wieder nicht.
Das Wort WG färbte sich immer rosiger in seinen Gedanken.
Nicht lange, und die drei übertrafen sich gegenseitig mit den kühnsten Vorstellungen vom späteren Zusammenleben. Richtig ausgelassen wurden sie. Alleine der Gedanke, noch mal etwas Neues, noch nicht Ausprobiertes zu versuchen, machte sie lebendig, um Jahre jünger.
Man sollte es einfach tun.
Und den gemeinsamen Enthusiasmus keinesfalls ausbremsen lassen von kleinmütigen Zweifeln und Bedenken.
Man muss es einfach tun!
Wir werden es tun!
© Brigitta Willer