Seelen-Ich
von Cieloluna
Es war eine Weile her, dass ich den See besucht hatte. Von der Brücke aus betrachtete ich einige zartbunte Blätter, die sonnenüberflutet, fast schwebend hinweg getragen zu werden schienen, wie von unsichtbaren magischen Kräften, leicht tänzelnd, auf und ab wippend, ein Kinderreigen. Sie wurden hinweg getrieben, entfernen sich. Kaum spürbar drang immer mehr Weite zwischen uns, sie wurden kleiner, farbloser, bis nur noch ihre Umrisse zu erahnen waren und schließlich nichts mehr blieb als der Eindruck des Unbeschwerten, den sie bei mir hinterließen.
Nur eine alte Trauerweide, die sich nach oben züngelnden Gräser und die sich mosaikartig verschiebenden Brückenfragmente und Ufergesteine lenkten mich ab, bis ich unerwartet und staunend merkte, dass ich hier nicht vollständig alleine war.
Zwischen herumrudernden, langen Armen, die wohl zur Weide gehörten, erblickte ich verschwommen Vertrautes, fühlte mich jedoch auf seltsame Art beobachtet.
Unterbrochen wurde ich gerade von dem Gedanken, wie der Baum direkt neben der Weide noch hieße, irgendwann kannte ich doch seinen Namen, jetzt kannte ich ihn nicht mehr.
Man vergaß doch so einiges: Begegnungen, Ereignisse, Momente, die früher Bedeutungen hatten; schlimm, dieses Vergessen. Gut, dass ich vieles aufgeschrieben hatte, so lebte Vergangenes neu in mir auf, auch wenn dadurch Erlittenes, Zerbrochenes und Verdrängtes mich einholte, häufig sogar schöne Momente hinweg schob, die vergangen waren, aber doch Bedeutung hatten.
Gerade fühlte ich mich wie Siddhartha, der am Wasser stand und an dem sein Leben vorbeizog, er Erkenntnis gewann und Offenbarung, nur war der Unterschied, dass ich noch Suchende war.
Die vielen Fragen, die immer in solchen Momenten wie Wellen wiederkehrten, bedrängten mich. Woher kamen wir? Warum waren wir? Warum änderten wir uns? Wann änderten wir uns? Wie ging die Veränderung vor sich, die wir manchmal selbst gar nicht wahrnahmen? Wann veränderten sich andere? Veränderten wir andere? Wer würde bei uns bleiben, wer würde uns verlassen? Wieso lösten sich Taue, die doch fest geschnürt Beständiges versprachen, welchen Grund hatten ständige Veränderungen? Konnte ich sie beeinflussen, konnte ich sie steuern? Konnte mein Handeln Verluste verhindern oder einschränken?
Andere sprachen weise von Phasen des Lebens, man müsse Platz schaffen für Neues, denn Stillstand bedeutete Tod, aber wollte ich das wirklich? Platz für Neues schaffen?
Ich dachte an Menschen zurück, die mir immer wieder fehlten, stellte fest, dass ich keinen Einfluss darauf hatte, wenn sich Menschen abwendeten, jemand gehen wollte oder gerufen wurde zu gehen. Ich hätte das anders entschieden, aber ich konnte auch die zauberhaft tänzelnden Blättergesellen nicht festhalten, auch sie durfte ich nur einen vorübereilenden Moment lang innig betrachten.
„Manches bleibt, manches entschwindet“, vernahm ich sehr leise die alte Weide, die ich jetzt erst wirklich bewusst wahrnahm, obwohl ich doch von früher wusste, dass sie dort stand, tröstend raunen.
„Vergehen wird alles, du Närrin, damit kannte ich mich bereits aus“, antwortete mein trotziges Ich.
Die Weide verstummte, sie schien beleidigt zu sein.
Meinen Blick wandte ich ab, fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, meine harten Worte hallten in mir nach. Zurücknehmen konnte ich sie nicht. Gesagt war gesagt.
Von oben betrachtete ich, durch das alte rotrostige Geländer, erneut das Fließgewässer. Gemächlich floss es dahin, änderte seine Farbe von zartem Wolkenweiß zu Cyan, dann zu Grau, dann Schwarzblau, je nachdem welche Wolken eitel von oben herabblickten, um sich, wenn auch nur kurz, zu betrachten.
Unerwartet beschlich mich erneut das Gefühl, als würde ich von unten beobachtet werden. Und plötzlich blickte mich ein Augenpaar an, welches zwischen Wolkenwasserschleiern aus der Tiefe in mich eindrang, ohne, dass ich eine Erlaubnis erteilt hatte. Sie schienen nicht fremd, sie wussten den Weg in mich hineinzustürzen, mich zu überfallen wie ein ungebetener Gast. Es war zu spät, die Tür zuzumachen. Hörte ich die alte Weide leise lachen? Ich traute mich nicht, sie anzuschauen.
Dann erkannte ich unverhofft Vertrautes, es waren meine eigenen Augen, die mich fragend anblickten, bis ich auch das verzerrte restliche Gesicht wahrnahm, aber letztlich war es nur der Versuch der Betrachtung, denn immer wieder veränderte sich die Person, die mir entgegenblickte. Irgendwie versuchte ich, sie zusammenzusetzen, nach dem inneren Muster, das ich von mir kannte, ich bemühte mich, die Verzerrungen zusammen zu schieben, klarer zu erkennen, inniger zu ordnen, aber es gelang mir heute nicht.
Ruhig blickte das von Strömungen durchwellte Bild mir entgegen, es schien so, als wäre unterhalb des Wassers ein tieferer, nicht mehr fassbarer Grund, der immer so schon gewesen war, nur an der Oberfläche selbst schien es Bewegung zu geben. Veränderungen, kleinere, größere Wellen huschten über Eigentliches hinweg und sorgten einen Moment lang für Verwirrung, sogar dafür, dass ich mich gar nicht mehr erkannte. Was hatte dazu geführt? Wie konnte ich mich verlieren, wusste ich doch, dass ich es war, die mir entgegenblickte. Nichts schien zu gelingen, ich wiederholte mehrmals den Versuch, dem fliehenden Wasser genau zu folgen, ließ in mir Umrisse, die ich doch immer schon kannte, vor meinem inneren Augen auferstehen und bemühte mich redlich mich wiederzufinden, dort unten in dem bewegtem Gewässer mit seinen Strömungen, und den auf ihm liegenden Winden, die mal sanfter und mal gröber zu ihm waren und auch Unrat mit sich trugen, Verletzungen, die das Bild zerschnitten, ohne Erbarmen, bis es sich unkenntlich verzerrte und nichts mehr von ihm übrig blieb.
Eine sehr schwarzdunkle Wolke behauptete lange ihren Platz. Ob es wohl regnen würde? Unentschlossen stand ich dort, wartete fröstelnd eine Weile, hielt die Schwärze und Bedrohung aus, die Weide verschwand fast in ihren eigenen Grautönen, ihre langen Arme hielt sie schützend um ihre knorrige Gestalt, so als fröre auch sie. Dann streuten sich unerwartet helle Pünktchen ins Graugeflecht und endlich verjagte ein wenig Licht die schwarze Wolkenmasse, ließ wieder Grüntöne zu, fiel auch sanft auf Wasserwunden, bis in die Tiefen des auf dem Grund liegenden ermatteten Herzens, schickte sogar Sonnenkringel, bis sich alles wieder fügte, still wurde und sich das verloren geglaubte Bild dort unten wieder zusammensetzte, bis es mir fast wieder ähnlichsah.
Es schien so, als hätte ich jetzt wieder etwas mit mir zu tun, als würde ich mich doch wiedererkennen. Die Weide schien zaghaft zu lächeln und ihre Arme berührten schon fast wieder die Oberfläche des Wassers. Es war, als wollte sie mit ihm schwimmen, doch ihr war dies nicht vergönnt.
Als ich begriff, dass ich doch oben in der Kälte zitternd auf mich ganz allein heruntersah, fühlte ich mich sehr einsam und wünschte, dass jemand eine Hand auf meine Schulter legte, mich wärmte und meine Gedanken behutsam an die Seite schob. Ich sehnte mich nach einer Gefährtin, einer Freundin, mit der ich alles teilen konnte, was in mir aufstieg.
Ich dachte über Gefährten nach, mit denen ich dieses Gewässer umrundet hatte und mir wurde bewusst, dass nur wenige geblieben waren und die Erkenntnis schmerzte, dass doch viele ihren eigenen Weg so gingen, dass sie nicht darauf achteten, wen sie zurückließen. Hatte ich auch Menschen zurückgelassen, die gerne weiter mit mir gegangen wären? Dieser Gedanke erschreckte mich, nicht mit Absicht, dachte ich, sondern durch Umstände. Waren es vielleicht immer eher die Umstände als das wirkliche Vorhaben, uns von Gefährten zu trennen?
Gefährten, ich dachte über dieses Wort nach, was heute wenige noch benutzten, wenn es um Freundschaften ging. Mir wurde bewusst, dass es keine einseitigen Gefährten gab, aber einseitige Freundschaften schon, vielleicht war deshalb das Wort aus der Mode gekommen.
Mir wurde kalt, ich blickte noch einmal in das Gewässer unter mir, aber ein gleißendes Licht hatte mein Gegenüber aus der Tiefe übertüncht. Ich musste es also dort lassen, so wie es jetzt war, und beendete meinen Rundgang, der heute noch länger gedauert hatte als sonst.
Ich blickte die Weide an und bat sie, wenn auch sehr stumm, um Vergebung. Einer ihrer Arme hob sich für einen kurzen Moment, so als winkte sie, wenn auch verhalten. Sie wusste, dass ich wiederkommen würde, hatte sie mich doch oft schon hier so stehen sehen.
Im Auto sitzend, dachte ich über das Wort „Gefährte“ weiter nach, ich kam zu dem Ergebnis, dass es wie „Gefährt“ klang und man mit seinem Auto ja auch viel gemeinsam erlebte, trotzdem klang „Gefährt“ nicht nach einer Beziehung, ich dachte, was so ein kleiner Buchstabe wie ein „e“ ausmachen konnte, das war schon erstaunlich.
Zu Hause angekommen, schnappte ich mir meinen alten, weisen Duden „Sinn und sachverwandte Wörter“, Band 8, er war zartblau, wie der Himmel und das Wasser eben zuletzt waren, kurz bevor ich meinen Weg beendete, dachte ich mir und wandte mich dem Buch zu, blätterte, bis ich das Wort „Gefährte“ schließlich fand. Ich war irritiert, über dem Wort „Gefährte“ fand ich tatsächlich „Gefährt“ – „Wagen“, eingebettet in die Begriffe „gefährlich“ und „gefahrlos“, „ungefährlich“.
Das fand ich jetzt interessant, der Duden gab mir eine einfache Auskunft. Ich war verwirrt, was sollte jetzt gelten? War ein Gefährte doch gefährlich, weil er einen verwirren, verletzen, verlassen konnte? Oder war er gefahrlos, weil man gerade ihm vertrauen konnte?
Eine Antwort darauf konnte ich gerade nicht finden, also studiere ich die Wortauflistung weiter. Sehr knapp oberhalb des Begriffs kam ich dann zu „Gefährlichkeit“ ,“gefährlich“, „Gefahrenzone“ und blieb an den Wörtern „schwierig“, „Lebensalter“, „schlimm“ und „schwierig“ hängen, sogar las ich „Spiel mit dem Feuer“. Das hatte ich bei der Suche nach dem Begriff „Gefährte“ nicht erwartet. Irgendwie trieb es mich weiter zu forschen, mit meinem Zeigefinger fuhr ich weiter auf der Seite nach oben und blieb an der Stelle „geeignet“ hängen, das passte mir jetzt besser, geeignet brachte ich doch mit dem Wort „Gefährte“ innerlich enger zusammen. Ich las weiter „geeignet“, „geeignet sein“, also „brauchbar sein“, weiter las ich „goldrichtig“, „passend“, „ideal“, „geschaffen für dich“, „auserwählt“. Mein Verstand jubilierte, mein Herz schwang sich in die Höhe, genau das war es, was ich mir vorgestellt hatte, als ich über das Wort „Gefährte“ nachdachte. Verwundert war ich, dass über das Wort Gefährtin dort nichts stand. Aber der Duden war von 1979, vielleicht war das inzwischen anders?
Plötzlich stürmten noch einige andere Buchstaben aus der unmittelbaren Nachbarschaft auf mich
zu, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Geduldspiel“, „Geduldsfaden, der jemandem reißt“, „ärgerlich werden“, und, das werden Sie mir vermutlich jetzt nicht glauben, direkt darüber fand ich „geduldig“, „nachsichtig“, „tolerant“, „abwartend“, „gottergeben“, noch vor „tolerant sein“ und „sich gedulden“. Es war, als lieferten sich die Wörter hier eine Schlacht: Protagonist – Antagonist, Gabriel und Lucifer standen sich hier gegenüber.
Wenn ich das alles auf das Wort „Gefährte“ bezog, dann verstand ich, wieso ich auf der Brücke allein stand …
Mir fiel das Auf- und Ab-Wippen meines Spiegelbildes wieder ein, ich fühlte die Verzerrung deutlich, sah noch einmal die langen dürren Arm-Äste der Weide, die greifen und festhalten wollten, aber es einfach nicht schafften. Die Jahre hatten uns verändert, sie hatten uns unbarmherzig eingeholt und müde gemacht, wir wussten, dass wir nichts festhalten konnten, wir wussten, dass wir längst nicht mehr die waren, die wir waren, die unbeschwert Pläne machten und von Zukunft träumten. Wir waren, aber waren jetzt anders als damals, als wir unvernünftig Drachen in zu starke Winde aufsteigen ließen und wir uns als Gefährten fühlten, ohne, dass wir das Wort damals kannten.
Ich war auch anders. Manchmal war das Gesicht, was mich im Spiegel anschaute grau und farblos, es war fremd, abweisend, kalt, manchmal, an ganz schlechten Tagen sogar furchteinflößend, es war stumm anklagend und gnadenlos. Das war es als Kind so nicht, als ich dort Trost suchte, war es fast so, als sei da eine andere, eine bessere, eine liebevolle Person – mir zugewandt und wissend,
mein Seelen-Ich, meine Freundin, meine beste Gefährtin, die aussah wie ich, es aber nicht war und dann wieder doch war. Mein Seelen-Ich, das mich aus Spiegeln ansah, aus Pfützen und Wassern, aus Fensterscheiben, nach denen ich mich auch manchmal heimlich umblickte, so als wollte ich mich vergewissern, dass ich doch nicht allein war und mich jemand begleitete, der mich besser kannte als ich mich selbst.
Besonders wichtig waren die Blicke, wenn ich mich verloren hatte, wenn ich im Menschengewirr unterging, wenn ich nicht mehr wusste, wer ich war, weil man mich nicht so lassen wollte, wie ich mich kannte, wenn ich innerlich verkrümmt und verkümmert die Tür hinter mir abschloss, durch Tränenflüsse den Spiegel betrachtete, die andere suchte und hoffte, sie zu finden, die Gefährtin, die Mutmacherin, die Tröstende, die Gutmütige, die Verständnisvolle, sich mir erbarmende Freundin, meinen „Seelenzwilling“.
Es gelang nicht immer, aber manchmal gab es diesen einen Moment, wenn ich geduldig war, wenn ich mir Zeit nahm, Zeit für mich selbst, wenn ich nachsichtig war, mit mir selbst, dann schaute mich wie von einer anderen Seite her, meine vertraute Gefährtin lange an, so als hätte sie sich die gleiche Zeit genommen, als hätte sie genauso empfunden, es schien sogar, als habe sie auf mich gewartet, dort an dieser Stelle, dort, wo sie immer war, dort wo sie sicher war und sein würde, auch in größter Not, dort wo andere keinen Zugang hatten, andere, die verletzen und gnadenlos mit uns waren, dort wo beide sicher waren und es Momente der Vereinigung gab, wenn das Ich aus dem Spiegel in das Ich vor dem Spiegel schlüpfte, so als wären zwei Personen zu einer geworden, ein Herz und wirklich eine Seele, ein Seelenherz.
Der vollendete Moment des Trosts, die Wiederherstellung des Richtigen, das innere Zurechtfinden, das sich „in die Augen blicken können“, das Wiederherstellen des Gleichgewichts zwischen innen und außen, das Wiedererlangen verloren geglaubter Sicherheit.
Diesen Moment, auch die Begegnung heute am Wasser, nahm ich mit, hatte ich doch meine Gefährtin wiedergefunden. Was eine Spiegelung doch auslösen kann, dachte ich …
© Cieloluna
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