Blind Date
Halb gefüllte Weingläser, Salzstangen, die brennende Kerze – Lena überfliegt die Anordnung auf dem niedrigen Couchtisch. Die Gläser schiebt sie – sicher ist sicher – weiter zur Tischmitte und setzt sich. Ihr Blick wandert von ihren Füßen bis zur Wohnzimmertür; der Weg zwischen ihr und dort ist frei. Zufrieden lehnt sie sich zurück.
Es klingelt.
»Ist offen!« Nach wenigen Sekunden hört sie die Tür ins Schloss fallen. »Geradeaus den Flur entlang ins Wohnzimmer!«
Er wird sie schon finden, weiß sie, und pustet die Kerze aus. Lichtschwaden tanzen vor ihren Augen. Einen Moment lang ist sie nicht sicher, dass es absolut dunkel ist. Sind die Jalousien wirklich dicht? Dann aber senken sich doch die ersehnten schwarzen Schleier über sie und vertreiben ihr das letzte Augenlicht.
Lena liebt die Dunkelheit. Dunkelheit bietet ihr Schutz vor Blicken. Lena hasst Blicke. Blicke kommen stets uneingeladen. Sie stoßen vor ins Private, schamlos und jeden Anstandsabstand missachtend. Sie stochern und pulen und begrapschen das Intime. Nackt fühlt sie sich, wenn es an Dunkelheit fehlt, entblößt und hilflos dargeboten. Nur in der Dunkelheit ist sie sicher. Nur in der Dunkelheit kann sie vertrauen. Und nur die Dunkelheit ist in der Lage, ihr größtes Handicap zu verbergen: ihr Aussehen.
»Lena? Bist du hier?«
Na, das Wohnzimmer scheint er gefunden zu haben. Seine Stimme ist nah – aber nicht nah genug.
»Drei Schritte bis zur Couch links von dir.«
Lena ahnt, wie er nach der Couch tappt. Sie hört das Rascheln seiner Kleidung. Jetzt fährt seine Hand über den Bezug, suchend, vorsichtig, um ihr nicht zu schnell zu nah zu kommen. Das Polster wippt, als er sich neben sie setzt.
»Du hattest eine Kerze an?« Keinen Meter ist seine Stimme jetzt von ihr entfernt.
»Wegen der Romantik«, gesteht sie.
»Verstehe«, lügt er.
Lena beugt sich vor und tastet nach den Weingläsern.
»Ich habe einen Roten ausgesucht, nicht zu trocken.«
Es ist schon ein kleines Wunder, als sie fast perfekt anstoßen, ohne Kleckern oder Glasbruch. Lena nippt ein, zwei mal, hört ihren Atem in ihrem Glas und seinen in seinem.
»Sehr gut«, schwärmt er. »Wir haben keinen besseren.«
Lukas ist Kellner. Er kennt viele gute Weine. Und jetzt sitzt er neben ihr auf der Couch und lobt ihren. Glücklich stellt sie ihr Glas zurück und klemmt die Hand unter ihre Pobacke, um sie unter Kontrolle zu haben. Die andere legt sie rücklings auf ihre Knie – als Einladung gewissermaßen, freimütig und kühn.
Doch vorerst bleibt sie unerhört. Lukas rührt sich nicht. Sie schweigen. Bisher hatten sie sich immer viel zu erzählen, aber jetzt will ihr einfach kein Thema einfallen. Ihm hoffentlich auch nicht.
Tatsächlich bleibt es still. Nicht einmal seinen Atem kann sie jetzt noch hören. Ist er überhaupt noch da? Sitzt er noch neben ihr? Er könnte hinter dem Sofa stehen, und sie würde es nicht merken. Er könnte Grimassen schneiden, ihr einen Kuss zuwerfen, sie wüsste nichts davon. Er könnte sonst was mit ihr anstellen, sie würde es nicht vorhersehen. Nichts, gar nichts weiß sie auch nur über den allernächsten Augenblick. Und genau das war ihr Ziel, genau so wollte sie Lukas begegnen. Durch das Löschen des Lichtes hat sie sich ihm ausgeliefert und die Schwelle zu seiner Welt überschritten, in der er im Vorteil ist und sie hilflos. Alle Macht hat er nun über sie, über ihre Haut und ihre Haare. Doch mit dieser Macht überlässt sie ihm auch die Last der Initiative und sich selbst die Lust der Ungewissheit. Diesem Zauber wollte sie erliegen, als sie sich blind zu ihm in diese Finsternis stürzte.
Lena vertraut Lukas. Außer ihm vertraut sie so gut wie niemandem. Diebe auf den ersten Blick sind ihre Mitmenschen. In Bruchteilen einer Sekunde rauben sie ihr das Offensichtliche vom Leib und starren wie gebannt auf ihre Beute. Kaum jemand, der sie einmal ansieht, hat anschließend noch ein Auge für all das Verborgene in ihr, sucht ihr eigentliches Wesen oder forscht nach ihrem Mysterium. Zu sehr befängt ihre äußere Erscheinung Männer wie Frauen; denn Lena ist wunderschön. Das fand bereits ihre Mutter, als sie sie im glitzernden Prinzessinnenkleid ins Rampenlicht stellte und sagte: »Und jetzt immer schön lächeln«. Lena gehorchte und gewann viele Preise. Sie wurde älter und beinahe erwachsen. Vergeblich hoffte sie auf Pickel und Speckfalten. Doch ihre untadeligen Gesichtszüge, ihre makellose Haut und später ihre Traumfigur überzeugten fast jede Jury. So sammelte sie Krönchen und Schärpen und ihre Mutter die Preisgelder. Als die Kleidchen jedoch immer knapper wurden und die Blicke begannen, ihr selbst diese noch auszuziehen, entschied sie sich, das Lächeln zu verlernen und ihre Schönheit zu hassen. Seither ist gutes Aussehen für sie eine Behinderung und ein Geschwür und eine Krankheit wie die Pest.
Sie erschrickt, als er sie berührt. Seine Haut auf ihrer – das hat sie erhofft, aber nicht kommen sehen, und so auch keine Gelegenheit gehabt, ihr Zittern zu unterdrücken. Er muss es bemerkt haben. Jetzt weiß er, wie es um sie steht. Seine Finger jedenfalls ruhen jetzt auf ihren, Kuppe auf Kuppe punktgenau gelandet: der kleine beim Zeige-, der Ring- beim Mittel-, der Mittel- beim Ring- und der Zeige- beim kleinen Finger. Sie wandern weiter, durch Falten und über Schwielen hinweg der Handfläche entgegen. Linien eines fremden Lebens finden sie dort, und was Lukas an Lena fühlt, kann sie auch an ihm fühlen. Denn anders als ein Blick bleibt Tasten niemals verborgen, sondern ist stets ein beiderseitiges Erlebnis. So wie ihre erste Berührung, damals, als sie mit Kollegen Gast war im Dunkelrestaurant und er der Kellner. Schon seine Stimme war ihr aufgefallen bei der Bestellung. Später dann griff sie nach ihrer Serviette, als er gerade ihren Teller abräumen wollte. So legte sich ihre Hand versehentlich auf seinen Arm. Sie verstand erst gar nicht, was sie da fühlte. Er zuckte nicht zurück und ließ sie so lange tasten, bis sie Knöchel auf einem Handrücken erkannte. Da war sie es, die zurückzuckte. Sie entschuldigte sich hastig, und niemand außer ihnen beiden wusste wofür. Niemand sonst hatte diesen Vorfall bemerkt, und niemand sah, wie sie errötete. Nur Lukas konnte es erahnen.
Doch eine einzelne Berührung verrät nicht viel. Ihr müssen weitere folgen, soll sich ein ganzes Bild ergeben. So wurde sie Stammgast in seinem Restaurant. Sie mied die Rushhour, trank oft nur einen Kaffee und bat ihn häufig, sich zu ihr an den Tisch zu setzen. Sie lernten sich gut kennen und redeten viel miteinander. Währenddessen versuchte sie, ihn so oft wie möglich zu berühren. Doch viel mehr als eine Hand hat er ihr nie zugestanden im Restaurant. Bis heute weiß sie nicht einmal, ob er noch eine zweite hat. Und so fasste sie schließlich den Entschluss, ihn zu sich einzuladen.
»Lena?« – Seine Stimme, direkt an ihrem Ohr! – »So wie du bist, Lena …« – wie gut er riecht, auch ohne Restaurant drumherum – »… genau so stelle ich mir ein Licht vor.« Bartstoppeln verhaken sich in ihrem Haar und eine zweite Hand legt sich ihr auf den Nacken. Aha, er hat also tatsächlich zwei.
»Wie … wie bin ich denn?«, hört sie sich fragen. Doch eine Antwort würde sie kaum noch hören. Ihr Geist folgt längst der Schaulust seiner Finger, die Wirbel für Wirbel über ihren Hals flanieren, und eilt voraus bis zum Haaransatz, in den sie sich gleich graben werden. Freimütig stellt Lena sich der Neugier, die Lukas gerade übermannt. Sein Augenmerk kann sie mehr als nur ertragen, denn sie weiß um die Achtsamkeit, mit der er sich Einblick gewährt. Ihr neuerliches Zittern jedenfalls mag sie nicht mehr unterdrücken; zu sehr findet sie Gefallen daran.
Dass Lukas weiterhin um die beste aller Antworten ringt, bereitet ihr keine Sorgen. Bei ihm muss sie den Super-GAU nicht fürchten. Denn niemals, nicht heute und nicht irgendwann, wird es ihm je in den Sinn kommen, dieses oberflächlichste aller Bekenntnisse, das ihr Vergnügen umgehend beenden und sie ins Rampenlicht zurückdrängen würde, dieses eine, dieses banale, dieses unsägliche: ›Du bist so wunderschön.‹
Erschienen in (passend zum März):
Peter Coon (Kurzgeschichten):
Märzchen im November
Dreizehn nicht unerhebliche Erzählungen und eine nur so zum Spaß
ISBN 978-3738654998