Ab geht die Post
Ich bin Wolfgang, 37 Jahre alt, habe leider keine Familie, und lebte in Bad Vilbel. Meine Geschichte spielt im späten Frühjahr 2002.
In Bad Vilbel suchte man einen Postzusteller, und da ich aus einer 500-Seelen-Gemeinde im Vogelsberg stammte und unbedingt näher ran wollte an unsere Großstadt Frankfurt, kam mir die Stellenausschreibung gerade recht. Frei und ungebunden, aber mit vielerlei Hoffnungen auf mein künftiges, aufregendes Leben ausgestattet, bewarb ich mich, und da man hier förmlich auf so jemanden gewartet hatte, bekam ich wie selbstverständlich die Stelle.
Bad Vilbel stellte sich als eine sehr beliebte Wohnvorstadt der nahen Mainmetropole Frankfurt heraus. Es gibt hier eine attraktive Altstadt mit ein paar interessanten Restaurants und urigen Kneipen, unterschiedlichste Einzelhandelsgeschäfte und gleich angrenzend eine Parklandschaft mit dem Stadtflüsschen, der Nidda.
Etwa 27.500 Einwohner haben sich wegen der guten Anbindung und räumlichen Nähe zur Großstadt hier angesiedelt. Während meiner abendlichen Züge durch die Kneipen hörte ich oft, dass man hier wohne, weil Bad Vilbel alles biete und zum Glück seinen dörflichen Charme behalten habe. Neu-Bad-Vilbeler berichteten, was man alles im Umland Schönes sehen könne und wie attraktiv doch die Wetterau mit dem angrenzenden Vogelsberg, dem kleinen Mittelgebirge in nördlicher Richtung, wäre.
So beschloss ich, eine auf mich zugeschnittene Fahrradtour entlang der Nidda zu planen, bis nach Nidda-Stadt und den nahegelegenen Nidda-Stausee. Dafür besorgte ich mir im ansässigen Buchhandel eine Landkarte mit eingezeichneten Wanderwegen, da es eine spezielle Fahrtourenkarte nicht zu kaufen gab. Ich studierte sie am Abend auf meiner 1 ½-Zimmer-Bude. Die hatte ich direkt über dem „Hinkelhaus am Kreisel“, der Einfahrt zur Altstadt, angemietet. Die bessere Hähnchenbraterei war mit ihrem Angebot geschmacklich wirklich eine Sensation. Im Laufe der Zeit wurden mir die ständig gleichen Gerüche allerdings doch zum Problem. Ich akzeptierte das, war dafür doch der Mietpreis ziemlich freundlich.
Doch weiter mit der Routenplanung. Diese sollte zunächst durch den „Vilbeler“ Park führen, vorbei an der Burgruine, in der jährlich die Festspiele stattfanden, links entlang des Firmengeländes der „HASSIA“-Mineralwässer, die ihr Wasser aus dem Vogelsberg bezogen. Die gesamte Strecke sollte sich entlang der Nidda ziehen.
Der Dottenfelder Hof, einer der ersten großen Gutsanlagen mit Demeter Bewirtschaftung und eigenem Hofladen, würde dann von rechts grüßen. Danach wartete das bisher unbekannte, fruchtbare Acker- und Weideland der Wetterau. Wie gesagt war mein Ziel die Stadt Nidda, die rund 40 Kilometer entfernt lag. Die Fahrzeit schätze ich auf knapp drei Stunden. Hin und zurück also 80 Kilometer und etwa sechs Stunden Fahrt plus einer gastronomischen Unterbrechung am Zielort.
Ein eigenes Fahrrad besaß ich nicht, aber mein Chef hatte schon zugestimmt, dass ich mir mein Dienstrad ausleihen dürfe. Es war postgelb lackiert, hatte keine Gangschaltung, was ja wohl im Flachland auch nicht erforderlich sein sollte. Statt einer Klingel besaß es eine Dreiklanghupe und ein Werbeschild, welches das Rad eindeutig als der Deutschen Bundespost zugehörig einstufte. Es hatte auch den typischen massiven Dreieckdoppelständer und einen schwergewichtigen Gepäckträger mit dauerhaft aufmontierter lederner Briefposttasche. Lampen hinten und vorne fehlten gänzlich. Naja, die Post liefert Briefe und kleinste Päckchen ja auch nur tagsüber aus. Alles in allem wog das gelbe Unikum schlappe 36 Kilogramm. Eine echte Aufgabe für die erste Radtour meines Lebens. Doch ich vertraute meinen festen Waden und bereitete mich weiter auf dieses Vorhaben vor.
In der kommenden Woche am Donnerstag war es soweit: Alles hatte ich für die Tour gerichtet. Das Post-Rad stand angekettet im Hof. Mein Outfit bestand aus einer auf Naht gebügelten postblauen Hose inklusive zweier Wäscheklammern, die den Schlag der Hose bändigen sollten, einer wasserdichten Uniformjacke, einem weißen Unterhemd ohne Postaufdruck sowie schwarzen, frisch geputzten Postsportschuhen.
In die auf dem Gepäckträger aufmontierte Tasche hatte ich Proviant für drei Tage und einen gegen schweren Regen zu verwendenden Überwurf eingepackt. Ich überprüfte noch einmal die Gesamtsituation auf Vollständigkeit. Mein letzter Gedankengang geriet auf einmal ins Stocken. Natürlich fehlte sie: die Landkarte. Ich stürzte noch einmal die Treppe zu meiner Wohnung im dritten Stock hoch, griff die Karte auf dem Wohnzimmertisch und sprang flink zurück.
Jetzt war ich nicht mehr zu bremsen – vorerst … Als erstes drehte ich noch eine Runde durch den vor mir liegenden Autokreisel und bog dann in die Fußgängerzone der Vilbeler Altstadt ab. Zweifellos radelte ich mit mehr als den erlaubten sieben km/h. Unerklärlicherweise fühlte ich mich auf dem Post-Rad und in der Postmontur ziemlich stark. Am Ende der Fußgängerzone überquerte ich die Nidda-Brücke und begab mich auf den Wanderweg entlang der Nidda.
Die ersten Kilometer ging es gemächlich dahin. Ich genoss die üppige Vegetation, sah den ein oder anderen Fisch in der Nidda. Offensichtlich war die Wetterau auch ein Pferdeland; jedenfalls gab es eine Reihe von Pferdekoppeln zu sehen. Gerade diesen Anblick hatte ich ganz besonders gerne.
Dann geschah, womit ich niemals gerechnet hatte. Ich fuhr gerade links an einem Erdwall des neuesten Wohngebietes von Dortelweil entlang, als dort zwei junge Frauen intensiv palavernd hervorkamen, dahinter zwei junge, aber doch recht große Hunde. Sofort stieg in mir diese unterschwellige Angst vor Hunden auf, denn als Kleinkind war ich schon einmal von einem Hund gebissen worden. Was allerdings damals ganz genau geschehen war, weiß ich nicht mehr so genau.
Vom Anblick der Hunde erschrak ich und rief den Frauen zu: „Nehmen Sie Ihre Hunde an die Leine!“ Offensichtlich hatten sie mich weder gesehen, noch hörten sie mich, denn sie reagierten rein gar nicht. Ich griff zu meinem zweiten Mittel der Wahl, dem dreistimmigen Posthorn. Damit tutete ich auf Teufel komm heraus. Die Hunde reagierten sofort, aber nicht wie gehofft. Sie schossen auf mich und mein Post-Rad los. Offensichtlich hatten sie bereits eine besondere Affinität gegen radelnde Briefträger. Der eine Hund sprang direkt in mein Vorderrad. Er jaulte auf, denn schmerzlos war das Ganze für ihn sicher nicht. Dem Zweiten gefiel offensichtlich meine schöne Diensthose. Hier hatte er sich mit seinem Gebiss verfangen, Gott sei Dank ohne meine Waden mit zu erwischen. Als das Fahrrad mit mir die Böschung hinabstürzte, ließen sie das jeweilige Objekt der Begierde los und sahen uns beiden, dem Fahrrad und mir, hinterher. Aufgabe, jedwede Gefahr von den Frauchen abzuwenden, erfüllt!
Mit aller Kraft hatte ich meine beiden Bremshebel betätigt. Diese wirkten dermaßen direkt, dass das Vorderrad augenblicklich blockierte und ich in hohem Bogen darüber flog – in die Nidda-Böschung und dort in gefühlte hundert Brennnesseln, die Beine voraus ins Wasser.
Es dauerte einen Moment, bis ich wieder zu mir kam. Ohne Helm hatte ich Glück im Unglück gehabt. Noch unter Schock zog ich mich aus dem Wasser den Hang hinauf und hielt mich dabei an den Stielen der Brenneseln fest.
In nassen Schuhen und mit brennenden Händen oben angekommen, sah ich, dass sich die Hunde wieder zu ihren Frauchen gesellt hatten. Diese reagierten kein bisschen auf meine zornigen Rufe und gingen unbeirrt quatschend einfach weiter.
Damit hatte ich genug von meiner ersten Radtour. Eine Fortsetzung war ausgeschlossen. Es gab auch kein Zurück mehr auf dem Post-Rad, beide Räder waren heftig verbogen. Mir blieb nur eins: Auf Schusters Rappen zurück zum „Hinkelhaus“ laufen, das eiernde Postrad neben mir herschiebend.
Die Reparatur des Rads ging auf meine Kosten. Mein Vertrauen in den Radsport war gänzlich zerstört. Auf den Beruf des Briefträgers habe ich trotzdem nicht verzichtet. Dieser bot mir ein sicheres Einkommen und gute Aufstiegschancen. Ich blieb noch weitere fünf Jahre auf der Poststelle in Bad Vilbel, bevor ich direkt in die Großstadt Frankfurt wechselte. Als Wohnort blieb ich allerdings im schönen Bad Vilbel. Wandern, wurde meine neue Leidenschaft. Hierbei habe ich auch meine süße Marie kennengelernt; aber das ist eine neue Geschichte, die ich bei nächster Gelegenheit erzähle.
Korrekt und sauber erzählt, und auch mit einer guten Spannung. Ich habe ihn nicht gelesen, sondern ich habe ihn „geschmökert“. Dieses geht nur, wenn Poesie durchscheint.