Alle Jahre wieder
„Alle Jahre wieder …“ rieselte es übers Schiff, so oder so ähnlich, seit Tagen, vom Bug bis zum Heck – Der Kapitän ließ weihnachtsmusikalisch über die Toppen flaggen.
Busches hatten sich schon in den äußersten Winkel des Vorschiffs verkrochen. Aber auch hier entkamen sie ihm nicht, dem weihnachtlichen Gefühlsterror.
Es hatte Busche schon einiges an Überredungskunst gekostet, in diesem Jahr endlich seine Liebste von den eingefahrenen Gleisen weihnachtsfestlicher Betriebsamkeit zu heben.
Seit Jahren hatten sie sich nach jedem Christfest vorgenommen:
Nächstes Jahr – ohne uns!
Und kam die Vorweihnachtszeit – bei Aldi bereits im September – begannen die Vorbereitungen, wie gewohnt: Alle Jahre wieder.
Und wieder hatten sie es nicht fertig gebracht, Farbe zu bekennen.
Nicht so in diesem Jahr!
„Wir schwimmen dieses Weihnachten in Richtung Südafrika!“
Zunächst irritierte diese Ansage die Verwandtschaft, wirkte befremdlich:
„Je öller – je döller! – Das Ende familiärer Gemeinsamkeit!“ –
Aber einige atmeten auch durch: „Das Ende familiärer Zwänge!“
Auch Rike war froh, der elenden Gedichtlernerei enthoben zu sein. Und Lars hing sowieso lieber vor dem Computer.
Und nun das!
Das sentimentale Gedudel spülte unkontrolliert selbst frühkindliche Erinnerungen hoch: Busche wurde wieder der kleine Junge, den die frühmorgendliche Kurrende in helle Aufregung versetzte. Die Stunden bis zur Bescherung weiteten sich zu Ewigkeiten.
Als endlich der Silberklang des Glöckchens das Weihnachtszimmer öffnete, entlud sich die Anspannung in Jubel. Zunächst. In bittere Enttäuschung, fehlte das Langersehnte unterm Weihnachtsbaum. Und regelmäßig schon bald in nickligen Streitereien.
Die Nachmittage gehörten traditionsgemäß der Verwandtschaft. Tante Grete, obwohl alleinstehend, hatte abgesagt wegen Lisbeth – die hatte nämlich voriges Jahr … – ja, was eigentlich? Sie wusste es nicht mehr. Aber mit Lisbeth an einem Tisch? Undenkbar!
In späteren Jahren, Generationen weiter, lagen die Probleme anders, aber auch wieder nicht.
Busches Enkel wollten viel lieber Ski fahren. Gegen den Einwand des Sohnes – „Das könnt ihr Oma nicht antun!“ – knatschten und flunschten sie, gingen aber immerhin mit – wie alle Jahre wieder.
Natürlich hatte Lars das Buch schon zweimal im Schrank – Oma fand es jedes Jahr wieder lehrreich und damit schenkenswert. Von Alzheimer wollte sie nichts hören. Alexander hatte in einem Wutanfall das Carrera-Auto durch die Gegend geknallt – immer bekam er die lahme Ente zugelost – haarscharf vorbei an Busches Brille.
Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt für Opas Erziehungsmaßnahmen. Einer musste schließlich mal durchgreifen.
„Halt du dich da raus! Das ist ja wohl immer noch meine Sache!“, wurde die Schwiegertochter spitz. Oma versuchte zu schlichten, kramte das Kartenspiel vom letzten Jahr hervor, spielte mit den Enkeln, bis die verkohlte Gans aus dem Rohr stank.
Gott sei Dank musste sich jetzt keiner mehr mit Gänsebraten voll stopfen – Lars erinnerte sich gut der vorjährigen Bratenorgie – drei Tage Kamillentee und Zwieback hatten für ihn die Zeit zwischen den Jahren eingeleitet.
Der erträumte Weihnachtsspaziergang durch schneeverzauberte Landschaften fand statt unterm Regenschirm.
Rike liebte Pfützen und stellte Tante Hannas Humor auf die Probe.
„Ich muss schon sagen“, war die beleidigt, „zu meiner Zeit …“ Erstaunlich, dass der Spruch erst am Nachmittag kam.
Zum Kaffee wurde der Ausfall der Gans mit Torten und Kuchen kompensiert – Omas tagelanger Vorbereitung musste Ehre angetan werden. Bis Rike auf Omas weihnachtliches Seidenkissen kotzte – Mama hatte ihr Likörglas für eine Weile aus den Augen gelassen. Drei Stücke Frankfurter Kranz und Eckes Edelkirsch – das konnte nicht gut gehen. Frohe Weihnacht – so oder so ähnlich – alle Jahre wieder.
Eben nicht!
Und nun dösten die zwei Alten unter azurblauem Himmel ihrem weihnachtlichen Acht-Gänge-Menü entgegen – Liegestuhl neben Liegestuhl. Das „Weißt-du-noch“ wurde schon ein paar Mal herübergeseufzt. Offenbar euphorisierte die räumliche Entfernung die großmütterlichen Erinnerungen. Aber auch Busches Augen hatten schon zum x-ten Mal Seite 137 seines Mankells abgerastert, ohne auch nur das Mindeste speichern zu können. Auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit wandelten sich die größeren und kleineren Katastrophen vieler Weihnachtsfeste zunehmend in Aktivposten. Seine Träumereien wurden eine Positiv-Spiegelung all’ dessen, was immer gewesen. Die strahlenden Gesichter seiner Enkelkinder glitten an ihm vorbei. Das „Ihr-Kinderlein-kommet“, wie alle Jahre viel zu tief angestimmt, wärmte ihm das Herz. Er hatte sich wohlgefühlt inmitten seiner Lieben. Wie schön, wenigstens Weihnachten alle um sich zu haben.
Das Band der Wirklichkeit war wie abgeschnitten.
„Komm, wir müssen uns umziehen, sonst kommen wir zu spät zum Dinner“ die Stimme seiner Frau brachte ihn wieder zurück an Deck, zurück ins Heute.
Was, zum Teufel, taten sie eigentlich zu dieser Zeit hier auf dem Schiff?
© Brigitta Willer
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