Little Wonder
von Liza Katáeva
Ich habe immer gedacht, dass das so eine Art Internet-Gerücht sei, weil es zu sehr nach Science-Fiction klingt, um wirklich zu stimmen. Etwas, das man auf einer Seite lesen könnte, die sich „Dinge, die Sie niemals geglaubt hätten“ aus der Nase zieht und von unter-14-jährigen Pferdemädchen oder über-35-jährigen Horoskop-Mamas verfolgt wird.
Aber als ich dann während „Little Wonder“ von Bowie, das mir bis ins Rückenmark dröhnt, nach links schaue, habe ich kurz das Gefühl, aus meinem Körper herausgeschwebt zu sein und mich von der Seite zu beobachten. Das Wort „verrückt“ beschreibt von selbst perfekt, was es bedeutet: Man ist nicht bei sich und scheint aus seinem Körper verrückt, zur Seite gerückt worden zu sein.
Genau so fühle ich mich, als ich durch den überfüllten Club eigentlich nur kurz zur Bar herüberschauen möchte und sie sehe. Sie trifft es eigentlich nicht ganz, denn im Grunde genommen schaue ich durch einen zeitversetzten Spiegel mir selbst beim Tanzen zu. Allerdings habe ich etwas an, das ich so niemals angezogen hätte: Das Kleid sieht eher wie ein mühsam langgezogenes Oberteil aus und auf solchen Pfennigabsätzen könnte ich höchstens sitzen. Aber die Haare, die Mimik, die Nase, von der mein Vater immer sehr stolz behauptet, dass es seine sei, das angetrunkene Lächeln, die, wie ich immer fand, zu konturenfreien, dünnen Lippen, sind alle dieselben, die ich jeden Morgen im Spiegel betrachte.
Wahrscheinlich bleibe ich so abrupt stehen, dass sie zu mir herüberschaut, um zu verstehen, weshalb der Platz neben ihr in einer plötzlichen Bewegungslosigkeit eingefroren ist. Dann entgleisen auch ihre Gesichtszüge. Obwohl wir höchstens zehn Sekunden vollkommen perplex dastehen, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie mich plötzlich grob am Handgelenk packt und hinter sich herzieht. Ich kämpfe mich durch die tanzenden Menschen und trete bestimmt auf fünf fremde Füße, bis die Tür der Damentoilette vor mir auftaucht, sich öffnet und ich mich im Stillen wiederfinde.
„Verdammte Scheiße, kommst du aus der Zukunft? Ich meine, komme ich aus der Zukunft?“, sprudelt es aus ihr hervor.
„Wer zum Teufel bist du?“, keuche ich hervor und stütze mich am Waschbecken ab. Der fünfte Cocktail knallt.
„Soll das ein Witz sein?“, schreit sie fast. Nun fällt mir auch die Ähnlichkeit unserer Stimmen auf. „Du siehst genauso aus wie ich, Mann! Sag mir bitte, dass es Zeitmaschinen gibt! Fuck, ich hätte eine Rede vorbereiten sollen! Aus welcher Zeit kommst du? Bin ich verheiratet? Warum sehe ich immer noch so jung auf? Sehen Zeitmaschinen wirklich so aus, wie in Zurück in die Zukunft? Warum … warum lachst du so?“ Sie holt Luft und schaut mich verzweifelt an. „Kannst du mir bitte antworten?“
Ich kann mich nicht mehr kontrollieren und rutsche an der weißen Fliesenwand herunter.
„Bist du … Bist du vollkommen bescheuert?“ Ich schüttle mich vor Lachen. „Ich komme nicht aus der Zukunft. Hast du noch nie von der 7-Doppelgänger-Theorie gehört?“
„Von der was?“ Sie schaut mich mit weit ausgerissenen Augen an.
„Von der 7-Doppelgänger-Theorie. Es heißt, auf der Welt gibt es zu jedem Zeitpunkt mindestens sieben Menschen, die genauso aussehen wie du.“
„Ist das dein Ernst?“, fragt sie und setzt sich neben mich. Ihr Kleid rutscht an ihren Oberschenkeln hoch.
„Ja. Hab ich mal gelesen. Aber ich muss schon zugeben: Ich hätte niemals gedacht, eine von ihnen zu treffen, geschweige denn, dass eine davon Deutsch sprechen und mit mir Seite an Seite zu Bowie tanzen wird.“ Ich kann immer noch nicht aufhören, sie anzustarren. „Vielleicht haben wir aber auch einfach beide echt einen sitzen und denken nur, wir sehen uns verdammt ähnlich.“ Die Fliesenwand an meinem Rücken ist kühl und gibt mir zu verstehen, dass ich mich in der Wirklichkeit befinde.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, Mann. Ich meine, wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide die Illusion haben, wir sehen uns vollkommen gleich? Das kann nicht sein. Selbst, wenn wir beide LSD genommen hätten, wäre das unmöglich …“ Sie neigt ihren Kopf zur Seite, als würde sie mich so aus einem anderen Blickwinkel betrachten können. „Wow. Sag mal … Wie heißt du eigentlich?“
Ich grinse. „Wenn ich es nicht sage, dann wird es bis in alle Ewigkeit die Möglichkeit geben, dass wir den gleichen Namen haben.“
„Nein“, entgegnet sie. „Das Einzige, was sich ändern würde, wäre unser Verdacht, dass es so sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir den gleichen Namen haben, würde davon nicht größer werden.“
„Glaubst du“, witzle ich. „Vielleicht bist du ja in Wahrheit aus der Zukunft und willst es bloß nicht zugeben, weil du eine geheime Mission hast. Butterfly-Effekt und so …“ Ich mache eine ausführende Geste. „Gib es zu, du wolltest nur ein paar Dinge in der Vergangenheit wieder herrichten und versuchst gerade, mich davon abzuhalten, etwas zu tun, was zum dritten Weltkrieg führen wird.“
Sie lacht mich an. Dann sitzen wir ungefähr eine Minute in völliger Stille. Die Bässe dringen zu uns durch, aber ich kann mich nicht genug konzentrieren, um zu verstehen, welcher Song gerade spielt.
„Du siehst ganz schön gut aus“, flüstert sie, als sie mit ihrem Finger über meine Wange streicht. Erst jetzt fällt mir auf, wie nah wir uns gekommen sind.
„Und du bist ganz schön selbstverliebt“, entgegne ich und drücke mich ihrer Berührung entgegen. Als wir uns gegenseitig in einen Kuss ziehen, habe ich kurz den Gedanken, dass jetzt wieder alles richtig ist. Es soll keine zwei von uns geben. Nun schmelzen wir zu einer Person zusammen, wie es sein muss. Als wir uns voneinander lösen, hat sich etwas verändert. Zwar sind wir auf dem kalten Boden immer noch zu zweit, doch es gibt keine Trennlinie mehr zwischen uns.
„Das ist verdammt gruselig“, gibt sie zu. „Und verdammt heiß. Wohnst du hier?“
Ich nicke nur, schaue in ihre Augen und überlege kurz, ob meine im kaltweißen Licht auch so einen Grünstich haben.
„Ich komme mit.“ Sie fragt nicht. Sie konstatiert einen Fakt, weil sie ganz genau weiß, was in meinem Kopf gerade vor sich geht.
Ich greife nach dem Waschbeckenrand, ziehe mich hoch und strecke ihr meine Hand hin.
Als wir endlich draußen sind und uns die warme Sommernachtsluft entgegenschlägt, halte ich sie kurz am Arm fest und schaue sie ernst an.
„Eine Sache muss ich wissen“, sage ich. Sie legt ihren Kopf schief und wartet. „Unter diesen“, ich fuchtle wieder mit den Händen. „diesen Umständen … Meinst du, dass das als Selbstbefriedigung zählt?“
Sie lacht laut und hell auf und hält sich an mir fest. Und ich weiß, es ist ihr ehrlichstes Lachen.
© Liza Katáeva
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