Mein letzter Sprung

von Gudrun Sommer, Hattingen


Ich bin ein Ikari aus Mostar und heute ist mein letzter Sprung.

Ein letztes Mal werde ich aus sechsundzwanzig Meter Höhe in die Neretva springen, mit fünfundachtzig Kilometer pro Stunde in das nur acht Grad kalte, türkisgraue Wasser eintauchen. Ein Knochenjob. Ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Morgen ist mein sechsundvierzigster Geburtstag.

Einen Nachfolger habe ich nicht. Meine Kinder wollen weg aus Mostar, weg aus Bosnien-Herzegowina. Wir leben von der Hand in den Mund. An guten Tagen, wenn viele Touristen kommen, verdiene ich fünfzig bis hundert Euro.

In unserer Ikarigruppe sind sechs professionelle Springer. Muslime, Juden und Christen. Alle Männer sind zwischen achtzehn und fünfundvierzig Jahre alt. Wir springen von April bis Oktober, fünf bis zehn Mal am Tag, von neun Uhr am Morgen bis um zwanzig Uhr am Abend, für die Touristen und für Ihren Obolus. Wir sind Tagelöhner.

Die Touristen kommen wegen unserer Stari Most, unserem Welt-Kultur-Erbe. Ohne diese Brücke keine Touristen, ohne Touristen keine Arbeit. Für die Touristen ist unsere Bogenbrücke ein Sinnbild für die Verbindung zwischen Orient und Okzident. Ein Symbol der Versöhnung und der Zusammenarbeit. Eine Brücke, die die muslimisch geprägte Ostseite mit der katholisch geprägten Westseite verbindet. Für die Touristen ist sie Hoffnung auf eine mögliche, friedliche Zukunft der Kulturen. Für uns ist die Stari ein Arbeitsplatz.

Im Jahre 1566 wurde sie von den Osmanen erbaut. Zerstört wurde die Brücke im Jugoslawienkrieg am 09. November 1993 durch die kroatische Armee. Mit Hilfe der UNESCO, der Weltbank und der Türkei wurde sie als Wahrzeichen im Jahre 2004 für fünfzehn Millionen Euro wieder aufgebaut. Da war ich fünfundzwanzig Jahre jung.

Seit dieser Zeit springe ich. Seit dieser Zeit bin ich ein Ikari.

Und heute ist mein letzter spektakulärer Sprung.


© Gudrun Sommer
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Gudrun Sommer - Mein letzter Sprung
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