Nachtlicht
Er hätte niemals etwas anderes tun können, als in den Spiegel zu schauen, Stunde um Stunde, immerfort. Überall suchte er einen Spiegel, zumindest glänzende Oberflächen, beschichtetes Metall, eine Pfütze, einen träge dahin fließenden Fluss, einen stillen See, einen Tropfen, eine Flasche. Süchtig war er, süchtig nach seinem Ebenbild.
Er brauchte den Glanz einer Fläche, um sich ein Bild von sich zu machen. Denn er kannte sich anders nicht. Er erkannte sich nicht, wenn er die Spiegelung seiner selbst nicht sehen konnte. Er konnte sich keine Vorstellung von sich machen, wenn er sich nicht sah. Wenn er sich nicht sah, war er für sich nicht erkennbar. Dann war er sich nicht vertraut, nein, noch weniger, er war sich fremd. Wenn er sein Spiegelbild nicht sehen konnte, war er sich gleichgültig, wie in jeder Nacht, in der er nicht wagte, das Licht zu löschen.
© Hans-Ulrich Heuser
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