Tante Hilde
„… 98 – 99 – 100 – ich kommeeee!“, schallt es an einem schönen Sommertag über die schattige Lichtung mitten im Wald. Eine ältere Frau mit blondem gewelltem Haar und fülliger Figur dreht sich vor einer dicken Kastanie um und geht in ihren orthopädischen Schuhen langsam und leicht hinkend von Baum zu Baum und sucht die Kinder, die sich dahinter versteckt haben. Dieses Bild habe ich immer im Kopf, wenn ich an meine Tante Hilde denke.
Tante Hilde war meine Patentante. Sie wohnte im Nachbarort und einmal im Jahr reiste sie mit der Straßenbahn an, um mit uns Kindern und meiner Mutter einen Ausflug zu machen. Meine Schwester und ich durften immer unsere Freundinnen dazu einladen. Wir wanderten durch den Wald. Unterwegs mussten wir zwei Holzbrücken überqueren und das war immer ein besonderer Spaß. Auf der sogenannten Teufelsbrücke verjagten wir mit lauten Rufen und stampfenden Schritten den Teufel und auf der Engelsbrücke mussten wir ganz leise schleichen, um die Engel in ihrem Mittagsschlaf nicht zu stören. Laut singend erreichten wir dann die Lichtung. Hier spielten wir gemeinsam und in der Blockhütte am Rande des großen Platzes gab es ein leckeres Picknick. Oft las uns Tante Hilde dann noch eine Geschichte vor. Wir liebten diese Ausflüge und ich liebte meine Tante Hilde, weil sie immer fröhlich alles mitmachte, was wir Kinder uns ausdachten.
Aber Tante Hilde hatte noch andere Qualitäten. Sie hörte gut zu, wenn ich ihr etwas erzählte, fragte ehrlich interessiert, wie es mir in der Schule oder später in der Ausbildung und im Beruf erging. Sie interessierte sich auch dafür, wie ich meine Freizeit verbrachte und was ich mit meinen Freundinnen erlebte. So baute sie eine Brücke zwischen zwei Generationen und erleichterte mir den Weg über diese Brücke, weil ich immer spürte, dass sie mich ernst nahm.
Lange Zeit besaß Tante Hilde einen kleinen Kiosk. Wenn ich in den Ferien bei meinen Großeltern war, die ganz in der Nähe wohnten, besuchte ich sie dort. Oft schickte mich mein Opa zu ihr, um für ihn Zigarren zu kaufen. „Sechs Handelsgold zu 30“ mussten es immer sein. Als Wegzehrung für den Rückweg bekam ich dann eine Tüte Lakritz oder ein selbst hergestelltes Eis. Für ihr köstliches Eis war Tante Hilde im ganzen Ort bekannt.
Mein größtes Erlebnis war, wenn ich im Kiosk helfen durfte. Ich verkaufte Getränke und Süßigkeiten, die in großen runden Gläsern aufbewahrt wurden. Das Mittagessen bekamen wir immer auf ganz besondere Weise angeliefert. Tante Hilde lebte mit ihrer Mutter zusammen, die für uns kochte. Die Wohnung der beiden lag im 3. Stock eines Hauses direkt neben dem Kiosk. Mittags klingelte das Telefon und dann wurde das heiße Mittagessen durch das Wohnzimmerfenster in einem Korb an einem Seil heruntergelassen. Nach dem Essen räumten wir das Geschirr wieder in den Korb und nach einem kurzen Anruf ging das Geschirr wieder nach oben. Diese geniale Erfindung meiner pfiffigen Tante Hilde beeindruckte mich immer wieder.
Eine Familienfeier war ohne Tante Hilde nicht denkbar. Obwohl sie nach dem Tod ihrer Mutter noch lange allein lebte, war sie ein Familienmensch und baute darüber hinaus auch viele Brücken zu Bekannten und Freunden. Mein Kontakt zu ihr endete erst mit ihrem Tod und auch in ihren letzten Tagen dachte sie noch an mich. Sie vererbte mir die goldene Halskette, die ich immer an ihr bewundert hatte.
Heute bin ich selbst Tante und Patentante. Ich versuche, zu meinen Neffen und Nichten Brücken zu bauen und eine fröhliche und aufgeschlossene Tante zu sein – so wie meine Tante Hilde es einst für mich gewesen ist.
Herzlich, humorvoll –
immer ein offenes Ohr.
Leben den Menschen zugewandt.
Danke – Dein Leitbild ist heute
ein Wegweiser für mich!
© Brigitte Hausherr
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