Referat „Was ist Lyrik?“ von Hans-Heinrich Stricker
Was ist Lyrik?
1. Der geistige Hintergrund
In der Lyrik wird das dichterische Erleben ganz in Gefühle und Gedanken, sozusagen in das Innere des Dichters, „eingeschmolzen“. Durch eigenes Lesen oder durch den Vortrag von Seiten des Autors selbst oder durch künstlerische Präsentation aus dem Munde von Bühnenschauspieler/innen wird die Lyrik inhaltlich für andere Menschen außerhalb des Dichters bzw. des Autors erlebbar. Das sog. „lyrische Ur- Erlebnis“ des Entstehens eines lyrischen Textes jedoch ist und verbleibt gleichwohl in Herz und Sinn des Autors für alle Zeit. Insofern hat auch das Schreiben von lyrischen Texten, der „heimlichen Königin“ aller Poesie, wie die Farbe des Bildes beim Maler oder der Ton der Musik beim Komponisten immer den Charakter der Einmaligkeit eines Originals. Im lyrischen Gedicht scheint das persönliche Erleben im wahrsten Sinne sozusagen in sprachlichen Klang verwandelt zu sein, in ein gefühlsvolles und von Gedanken erfülltes, seelisch geprägtes Eigengebilde. Lyrik ist zutiefst menschlich, sozusagen ur- menschlich. Insofern sind Bilder, Worte und Sprache (Bildsprache) – vor allem in der Lyrik – im Letzten zu inneren Trägern eines „mal leicht, mal schwer definierbaren Ahnens“ oder schillernden Abglanzes einer zumeist höheren geistigen Welt geworden.
2. Der sog. Lyrische Werkzeugkasten
Die Lyrik bedient sich, anders als die Epik in ihrer Lang- oder Kurzform (Roman, Ballade, Prosa, Märchen) und auch anders als die Dramatik, formal besonderer Mittel. Sie sind unter anderem z.B. teils der Musik, teils der Malerei und anderen Kunstformen entlehnt. Als da sind:
a) Metrik. Lehre vom Versmaß, von der Versfolge, von der Strophe usw. Kommt von „metron“, griech. Maß. Beispiel: Das Sonett mit seiner besonderen Versfolge.
b) Rhythmik. Nicht zu verwechseln mit dem Versmaß. Die Rhythmik kommt aus dem Stimmungsgehalt und ist in jedem Gedicht einmalig. Zwei Gedichte können durchaus trotz – einmal angenommen – gleichen Inhalts dasselbe Versmaß, aber doch eine je verschiedene Rhythmik haben.
c) Melodik. Sie bezieht sich auf das Zusammenspiel von Inhalt und Wortklang eines lyrischen Gedichtes. Jedes Wort hat ja seinen eigenen Begriffsinhalt einerseits und seinen besonderen Klang andererseits.
d) Metaphorik. Kommt von griech. „meta“ = hinüber und „pherein“ = tragen. Auch als Bildersprache bezeichnet. Am besten zu übersetzen mit „Aus dem Unterbewussten aufsteigender, bildhafter Vergleich“. Beispiel: Licht und Sonne stehen für Jugend, Dunkelheit und Abend stehen für Alter. Nacht steht für Vergehen und Tod. Ähnlich verhält es sich mit Blühen und Verwelken.
e) Wortneuschöpfungen (sog. Neologismen, griech. „neo“ = neu, „logos“ = das Wort) sind in der Lyrik üblich und anerkannt, sofern sie sparsam gebraucht werden und nicht allzu fremd wirken. Positive Beispiele: „Lippkosen“, der Titel einer Anthologie unserer Vorsitzenden und Kollegin Velina van der Gaag. Oder z.B. das Wort „Gittermond“, wenn ich eine Reihe von Fichten – auf einer Anhöhe wie Palisaden in Reihe stehend – beschreibe und dahinter den Mond erblicke.
3. Einige Bemerkungen zum Schluss
Lyrik vereint Beides: Die „lautlos tanzende und vorbei huschende Fee“ und den „schwergewichtigen polternden Bären“. Dazwischen finden sich zahlreiche expressive poetische Übergänge. Dass es verschiedene Formen von Lyrik gibt – etwa Narrative Lyrik, Liebeslyrik, Trauerlyrik, Grotesklyrik a la Hans Dieter Hüsch usw. – bedarf keiner längeren Ausführung. Ob die sog. „completely free arbitrary poems“, die aus willkürlich zusammengewürfelten, oft sinnlosen Worten bestehenden Chaos-Verse noch als Gedichte bzw. Lyrik bezeichnet werden können, möchte ich bezweifeln. Der Autorenkreis Ruhr-Mark pflegt solche Formen nicht. Er weiß sich der Sinnhaftigkeit des letzten Endes immer noch Verstehbaren verpflichtet. Die Freiheit von Bindungen an eine strukturierte Reimform ist für ihn dabei, wie in der Lyrik heute künstlerisch allgemein gestattet, nicht wertmindernd. Die Qualitäten eines anregenden ästhetischen Prinzips sollten jedoch dabei immer erkennbar bleiben.
Für mich persönlich – das sei mir gestattet – möchte ich als Autor ohne Selbstanmaßung mit dem Dichter der sog. Älteren Romantik Novalis – Friedrich von Hardenberg – ein Bekenntnis ablegen: „Die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn und ich kann nichts anderes dichten und denken … Wo gehen wir hin? Immer nach Hause“.
© Hans-Heinrich Stricker, verfasst am 4. Nov. 2022